Leben im Grossen Rat: Sechs Jahre – Sechs Einsichten.

Um die Politik ranken sich viele Mythen und Vorurteile. Dies ist für den Grossen Rat in Basel nicht anders. So haben sich auch meine Ansichten aufgrund der praktischen Erfahrungen während der letzten sechs Jahre als Grossrat verändert. Hier meine wichtigsten Erkenntnisse:

Von Stephan Mumenthaler, Grossrat

1. Alles ist machbar

Eine Eigenheit, die sich in praktisch jeder Sitzung gezeigt hat, ist der ungebrochene Glaube, dass jegliches Problem durch passende Regulierung gelöst werden kann. Weltweiter Klimawandel? Lösen wir durch Verkehrsregulierung in Basel-Stadt. Hohe Mietpreise aufgrund grossen Wachstums bei knapper Fläche? Lösen wir durch noch stärkeren Bau von Genossenschaftswohnungen.

Und die Ambitionen sind keineswegs auf unseren Kanton beschränkt. Mit einer inflationär ansteigenden Zahl von Standesinitiativen werden nicht nur nationale Themen wie Handelspolitik oder der Fahrplan der SBB in der Innerschweiz adressiert. Nein, auch internationale Themen wie der brennende Amazonas und der Krieg in Syrien werden vom Grossen Rat angepackt. Dies trägt zwar zur Lösung dieser Probleme kaum etwas bei, aber es gehe darum «ein Zeichen zu setzen». Vermutlich ein Zeichen an die eigene Wählerschaft, um die eigene Wiederwahl zu sichern.

2. Papa Staat ist der Beste

Als Begründung für die staatliche Intervention wird häufig Marktversagen diagnostiziert, wie in den obigen Beispielen Klimawandel und Wohnungsnot. Worüber – zumindest von der linken Mehrheit – kaum je reflektiert wird, ist das Gegenstück: Staatsversagen. Staatsversagen tritt zwar immer wieder auf und bei jedem neuen Beispiel – vom Biozentrum bis zur Messe Basel – mit Schäden von hunderten von Millionen gibt es ein grosses Wehklagen. Aber Konsequenzen werden nicht gezogen. Der Glaube an den Staat ist ungebrochen – er kann alles und soll alles. Dem Staat sollen immer neue Aufgaben aufgebürdet werden – vom Anbau von Lebensmitteln in den Quartieren bis zu Gratis-Kindertagesstätten. Leistungen, die den Staat und sein Budget letztlich überfordern werden.

3. Das Budget ist unendlich

Im Grossen Rat wird politisiert, wie wenn Kosten keine Rolle spielen würde. Dank der Tatsache, dass die Steuereinnahmen in unserem Kanton so reichlich sprudeln kann es sich Basel leisten, auf grossem Fuss zu leben – da darf ein Museum und ein Staatsarchiv auch mal 214 Millionen kosten. Und indem die Pensionskasse nicht mehr ausfinanziert wird, werden implizit auch die Schulden erhöht. Im Zweifel erhöht der Grosse Rat die Kosten der Vorlagen der Regierung sogar noch. Nicht nur wird kaum je etwas eingespart oder gekürzt, oft wird erhöht oder dem Staat zusätzliche Aufgaben aufgebürdet. Es ist halt auch allzu schön, das Geld anderer Leute auszugeben. Entschieden wird, was gut gefunden wird und bezahlen soll jemand anderes. Im Zweifel die Reichen – siehe Topverdienersteuer - oder dann halt kommende Generationen.

4. Der Schwanz wedelt mit dem Hund

Eigentlich ist der Grosse Rat die Legislative, er beschliesst die Gesetze. Aber in der Praxis kommen die Vorlagen von der Regierung bzw. der Verwaltung. Von Profis, die sich den ganzen Tag mit ihrem Thema befassen und es oft auch mögen – was ja zu begrüssen ist. Nur führt der Informationsvorsprung in der Folge dazu, dass die Regierung meistens ihren Willen durchsetzen kann, allen kritischen Fragen zum Trotz. Ein anderer oder besserer Standort für ein neues Museum oder eine neue Schule? Geht leider nicht, die evaluierten Grundstücke sind die einzigen im ganzen Kanton, die sich dafür eignen. Schwierig zu glauben, aber wie soll ein Milizparlamentarier das Gegenteil beweisen?

5. Die Grenzen der Miliz

Ursprünglich war eine Stärke des Milizsystems, dass Parlamentarier ihres angestammte Wissen aus Beruf und Praxis einbringen können. Dieser Vorteil verkehrt sich zunehmend ins Gegenteil, weil durch die steigende Professionalisierung von Berufsleben und Parlamentsleben nur noch gewisse Berufsgruppen sich die Zeit nehmen können für den Grossen Rat. Es wimmelt von Lehrern, NGO-Vertretern, Staatsangestellten und Rechtsanwälten, aber Vertreter aus Wirtschaft und Gewerbe werden immer seltener. Und damit wird nicht nur die Bevölkerung immer schlechter repräsentiert, es geht auch wichtiges Wissen und Erfahrung aus der Praxis verloren.

6. «Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen…»

«abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind." stellte Winston Churchill bereits 1947 fest. Auch wenn ich einige Aspekte kritisch sehe, so bleibe ich überzeugt, dass es keine Alternative zur Demokratie und zum Milizsystem gibt. Was ich mir wünschen würde, wäre etwas mehr Bescheidenheit und Demut auf Seiten aller Beteiligten. Der Staat und damit auch der Grosse Rat haben durchaus eine Rolle – eine wichtige Rolle. Aber die Anspruchsinflation und die daraus folgende Regulierungsflut schwächen letztlich den Staat und seine Glaubwürdigkeit, ganz abgesehen von den zusehends steigenden Kosten. Eine Limitierung der Rolle des Staates würde den Bürgern nicht nur mehr verfügbares Einkommen in den Taschen der Bürger belassen. Sie würde auch der Umsetzbarkeit und Durchsetzbarkeit der Gesetze helfen und damit der Glaubwürdigkeit der Demokratie und unserem System eine Zukunft sichern.

Zuerst erscheinen als Gastkommenar in der Basler Zeitung